Bericht von der zweiten internationalen Integral Theory Conference 2010 in San Francisco- Auszug aus dem Online Journal "integral informiert", Ausgabe 25
von Dennis Wittrock, August 2010
Was und wer ist die internationale integrale Bewegung? Gibt es sie überhaupt, oder ist sie vielmehr nur ein elitäres Unterfangen? Welchen Einfluss hat sie in der, bzw. auf die akademische Welt? Wie reif ist das Feld? Hat es sich von der Person Ken Wilber differenziert? Welche neuen Ansätze, Anwendungsbeispiele und Durchbrüche gibt es? Diese und andere Fragen hatte ich im Gepäck, als ich mich auf den langen Weg durch zahlreiche Zeitzonen nach San Francisco machte. Zum zweiten Mal überhaupt fand dort vom 29.07.-01.08. die ITC an der JFK University in Pleasant Hill statt.
Der Titel der Konferenz lautete „Enacting an Integral Future“. „Enactment“, zu deutsch etwa „Inszenierung“ bedeutet im Kontext der integralen Theorie und Praxis, dass unsere Erfahrung der Wirklichkeit nicht in irgendeiner vorgegebenen Form herumliegt, sondern, dass wir sie durch unsere Erkenntnisbemühungen und Praktiken aktiv co-kreieren und mit hervorbringen. Mit über 100 Referenten, 77 Einzelpräsentationen, 15 Panels, 16 Workshops im Vorprogramm und 24 Poster-Präsentationen war eine beeindruckende Bühne vorbereitet worden, auf der die über 500 Teilnehmer aus der ganzen Welt nun gemeinsam den nächsten Schritt einer integralen Zukunft inszenieren konnten.
Ich war bereits am Montag in San Francisco eingetroffen, um meinem Körper genügend Zeit zu geben anzukommen, so dass ich das volle Programm am folgenden Wochenende bewältigen konnte. Über meinen alten Freund, John Dupuy, aktiv in der Integralen Suchtgenesung, war mir der Kontakt zu Adam Gorman, derzeit Doktorkandidat an der JFKU, vermittelt worden. Ganz im Geiste von ILP gingen wir direkt nach meiner Ankunft ins Fitnessstudio und praktizierten morgens gemeinsam Meditation, was meinen Jetlag offensichtlich minimierte.
Mittwoch: Abend mit Steve McIntosh @ Bay Area Integral
Nach etwas Sightseeing am Dienstag wurde ich auf einen Event am Mittwoch Abend aufmerksam, den die lokale Bay Area Integral Gruppe mit dem integralen Philosophen Steve McIntosh veranstaltete, der anlässlich der ITC in der Gegend war. Terry Patten gab als Gastgeber eine kurze Einführung und danach präsentierte McIntosh unter dem Titel „Fortschritt und Ziel der Evolution“ eine Zusammenfassung der Kernthesen seines neuen Buches. Demnach ist Evolution im wesentlichen ein dialektischer Prozess, der von der Erzeugung und Verwirklichung immer höherer Werte angetrieben wird. McIntoshs Strategie besteht darin, mit seinem Buch vor allem Menschen anzusprechen, die der modernen Weltsicht anhängen und zu zeigen, welche Indizien sich alleine aus der Wissenschaft für eine Entwicklungssicht ableiten lassen, die beim Big Bang beginnt, sich im Bereich der Materie und des Lebens fortsetzt und schließlich auch das Feld des Geistes und der Kultur umfasst. Ihm zufolge ist z.b. eine emergente Qualität auf der Ebene des Lebens (Biosphäre) die Fähigkeit von Organismen - wie rudimentär auch immer - Intentionen zu folgen und evaluative Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit hat einen konkreten Überlebenswert. Dies gelangt zur Blüte in der menschlichen Kultur (Noosphäre), in der das Werte-Trio des Wahren, Schönen, Guten als evolutionärer Attraktor wirkt. McIntoshs Buch soll bald in den USA erscheinen.
Donnerstag: „Wer sind wir?“ – von Pitirim A. Sorokin zu Integral 2.5
Die Konferenz begann am Donnerstag mit 14 Pre-Conference Workshops. Ich besuchte zunächst eine halbtägige Einführung in Holacracy mit Brian Robertson, weil ich neugierig war, welche Aspekte seiner integralen Praxis für Organisationen er diesem speziellen Publikum nahebringen würde. Außerdem schaute ich mir einen Workshop mit Marilyn Hamilton und Cherie Beck an, die die Linsen von integraler Städteplanung und Mustern wiederkehrender Generationszyklen auf die Gesundheit von Städten und Kommunen anwendeten.
David Zeitler ging im folgenden näher auf die Frage „Wer sind wir?“ ein, indem er die Forschungsergebnisse einer Umfrage unter den Konferenzteilnehmern vor zwei Jahren präsentierte. Demnach hatten überdurchschnittlich viele Teilnehmer bereits schon mal mystische Erfahrungen gemacht und waren bewegt von den Themenkomplexen „kulturelle Fragmentierung & Zugehörigkeit“, „ökologische Verwüstung & Erneuerung“ sowie „psychologische Regression & Transformation“. Als wichtigstes Element der integralen Theorie empfanden 47% die Ebenen des Bewusstseins, als am schwierigsten in der Kommunikation mit Fachkollegen aus der eigenen Disziplin zu vermitteln wurde das Element Zustände des Bewusstseins genannt. Insgesamt wurde eine große Bandbreite unterschiedlicher Bewertungen festgestellt, die nahelegen, dass inhaltliche Spannungen im Feld fortbestehen werden. Dieser Sachverhalt wurde als Zeichen einer gesunden, diversen Gemeinschaft gedeutet.
Mark Forman betrachtete die Frage der Differenzierung von Ken Wilber genauer und machte deutlich das die Gleichung integral = Wilber nicht haltbar ist, in dem er sich auf die Suche nach den Fußspuren von Vorläufern machte und betonte, dass es gegenwärtige Alternativen zu AQAL gebe. Nichtsdestotrotz sagte Forman, dass AQAL ein raffiniertes Modell sei und verglich Wilber mit einem Mathematik-Genie, der uns zwar seine Lösung präsentiere, oftmals aber nicht den Weg, wie er dorthin gelangt sei. Er bezeichnete als das Ziel der Konferenz eine wissenschaftlich robuste Sicht des Integralen. Da die akademische Welt Traditionen vertraut und singulären Figuren oftmals misstraut, war es ihm ein Anliegen eine historische Sichtweise aufzuzeigen, wenn auch nur eine vorläufige, schematische:
Geschichte des Integralen
Integral beta: frühe integrale Denker
Integral 1.0: AQAL (1995), Ken Wilber
Integral 2.0: Zusammenwachsen & Anwendung (ITC 2008)
Integral 2.5: Differenzierung, Diversität, Forschung (ITC 2010)
Integral 3.0: eine reife integrale akademische Richtung
Ferner zeigte er fünf Weisen auf, in der das Feld sich von Wilber beginnt zu differenzieren
1) Evidenz
2) Interpretation
3) Anwendung & Betonung
4) Methode
5) Framework
Die ersten drei seien die leichtesten. Wenn man sich auf andere Daten bezieht (1), AQAL anders interpretiert (2), oder durch Anwendungserfahrung andere Aspekte betont (3) ist das wesentlich leichter, als wenn man eigenständig die integrale Methode (4) oder das Framework (5) verändern will. Als drei Herausforderungen hierbei nannte Forman den schieren Umfang des geschriebenen Materials (Sean Esbjörn-Hargens schätzt ihn auf ca. 10.000 Seiten - allein von Wilber - und 10.000 Seiten von anderen), die Schwierigkeit der Anwendung von AQAL und die Schwierigkeit der Schaffung einer Methode für Meta-Research. Eine solche Methode müsse rekonstruierbar machen, warum man welche Aspekte in seine Meta-Theorie aufnimmt, statt nur das Ergebnis des Prozesses zu präsentieren (wie Wilber).
Mark Forman bezeichnete es als große Wende unserer Sichtweise, das Integrale als historische Linie aufzufassen. Ganz in diesem Sinne präsentierte er dann auch einen weiteren – in integralen Kreise bis dato unbekannten – Vorläufer Ken Wilbers: den russisch/US-amerikanischen Soziologen Pitirim A. Sorokin (1889-1968). Dieser begann ebenfalls den Begriff „integral“ zu benutzen und bezog sich unter anderem auf die „drei Kanäle“ von Körper, Geist und Intuition, die jedem Menschen zur Verfügung stehen. Neben diesen und anderen Parallelen zu Wilber hatte Forman auf köstliche Weise herausgearbeitet, wie Sorokin scheinbar ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zu seinen Kritikern hatte. Aus zeitgenössischen Berichten seiner Kollegen ging anschaulich hervor wie Sorokin diese gnadenlos zerlegte – Wyatt Earp lässt grüßen. Das darauf folgende Gelächter im Publikum ließ auf eine gesunde Selbstironie im Feld schließen.
In Sean Esbjörn-Hargens Analyse des status quo rangiert die erste ITC 2008 rückblickend unter dem Motto „Liebesfest“, während 2010 für ihn ganz unter dem Zeichen der Differenzierung steht – nicht nur gegenüber Wilber. Er hob vor allem die Arbeiten vom Mark Edwards hervor, dessen Konzept der „Linsen“ er als wegweisend beschrieb. Die fünf Elemente von AQAL können demnach als theoretische Linsen aufgefasst werden, durch die die Welt erschlossen werden kann. Es seien aber noch andere Linsen denkbar, so z.B. die Linse „Macht“, die bei postmodernen Denkern wie Foucault eine zentrale Rolle spielt, jedoch in der integralen Theorie bisher nicht betont wurde (Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Postmoderne?). Er fasste die Entkopplung von Ken Wilber und Integraler Theorie in folgendem Diagramm zusammen:
Als Faktoren, die diese Entkopplung begünstigt haben, zählte er Wilbers Krankheit und die damit einhergehende Funkstille seinerseits (lange kein Output mehr), neu hervortretende Stimmen, neue Publikationen, die beiden ITC Konferenzen, sowie Mark Edwards Metatheorie auf.
Als neue Alternative zu Wilber-zentrischen Ansätzen auf der einen und dem „Haufen“ der Wilber-neutralen „Integral studies“ auf der anderen Seite illustrierte Sean Esbjörn-Hargens die dritte Möglichkeit einer Wilber-basierten Position anhand der Metapher eines Baumes. Der Baum wurzelt in der Arbeit integraler Pioniere, wie Gebser, Baldwin, Aurobindo, sein Stamm(-vater) ist Wilber und von dort ausgehend verästelt er sich in die verschiedenen Anwendungen, Erweiterungen und Publikationen. Über ihm schweben Wolken der Kritiker, wie etwa Visser und Edwards, deren Regen nährend wirkt. Man merkt an diesem Bild, wie sehr Esbjörn-Hargens in der Ökologie beheimatet ist. Er plädierte dafür, den integralen Ansatz als „theory of anything“ (statt „everything“) umzutitulieren – also nicht eine „Theorie von allem“, sondern eine Theorie, die auf jeglichen Aspekt der Realität angewendet werden kann.
Den Titel der Konferenz „Enactment“ bezeichnete er als fortwährendes Koan. Es bedeutet die aktive Teilhabe an der Realität, nicht nur deren Abbildung. Zentral dabei seien die Methodologien, das Wie der Inszenierung. Letztlich gehe es um die Praktiken. Und so forderte er die Anwesenden auf, in den folgenden Tagen u.a. folgende Eigenschaften zu praktizieren: Reflexivität, kritischen Dialog, Paradoxien halten, Meta-Sichten einnehmen, Perspektivwechsel, Dialektik...und Großzügigkeit untereinander – wobei letzteres im geläufigen akademischen Diskurs häufig genug ein Fremdwort sei.
Der Einführungsvortrag war der erste Paukenschlag für das, was ein großartiges Konzert werden sollte. Sean Esbjörn-Hargens hatte vorgerechnet, dass bei Berücksichtigung der Kombinationen der zahlreichen Angebote (der Taschenrechner seines iPhones streikte zwischenzeitlich) mindestens 800 Millionen verschiedene Wege denkbar waren die Konferenz zu durchlaufen. Ich war gespannt, was meiner sein würde.
Der komplette Teil 1 des Berichts ist im Online Journal "integral informiert", Ausgabe 25 zu lesen. Erscheint ab September 2010.
von Dennis Wittrock, August 2010
Der Titel der Konferenz lautete „Enacting an Integral Future“. „Enactment“, zu deutsch etwa „Inszenierung“ bedeutet im Kontext der integralen Theorie und Praxis, dass unsere Erfahrung der Wirklichkeit nicht in irgendeiner vorgegebenen Form herumliegt, sondern, dass wir sie durch unsere Erkenntnisbemühungen und Praktiken aktiv co-kreieren und mit hervorbringen. Mit über 100 Referenten, 77 Einzelpräsentationen, 15 Panels, 16 Workshops im Vorprogramm und 24 Poster-Präsentationen war eine beeindruckende Bühne vorbereitet worden, auf der die über 500 Teilnehmer aus der ganzen Welt nun gemeinsam den nächsten Schritt einer integralen Zukunft inszenieren konnten.
Ich war bereits am Montag in San Francisco eingetroffen, um meinem Körper genügend Zeit zu geben anzukommen, so dass ich das volle Programm am folgenden Wochenende bewältigen konnte. Über meinen alten Freund, John Dupuy, aktiv in der Integralen Suchtgenesung, war mir der Kontakt zu Adam Gorman, derzeit Doktorkandidat an der JFKU, vermittelt worden. Ganz im Geiste von ILP gingen wir direkt nach meiner Ankunft ins Fitnessstudio und praktizierten morgens gemeinsam Meditation, was meinen Jetlag offensichtlich minimierte.
Mittwoch: Abend mit Steve McIntosh @ Bay Area Integral
Nach etwas Sightseeing am Dienstag wurde ich auf einen Event am Mittwoch Abend aufmerksam, den die lokale Bay Area Integral Gruppe mit dem integralen Philosophen Steve McIntosh veranstaltete, der anlässlich der ITC in der Gegend war. Terry Patten gab als Gastgeber eine kurze Einführung und danach präsentierte McIntosh unter dem Titel „Fortschritt und Ziel der Evolution“ eine Zusammenfassung der Kernthesen seines neuen Buches. Demnach ist Evolution im wesentlichen ein dialektischer Prozess, der von der Erzeugung und Verwirklichung immer höherer Werte angetrieben wird. McIntoshs Strategie besteht darin, mit seinem Buch vor allem Menschen anzusprechen, die der modernen Weltsicht anhängen und zu zeigen, welche Indizien sich alleine aus der Wissenschaft für eine Entwicklungssicht ableiten lassen, die beim Big Bang beginnt, sich im Bereich der Materie und des Lebens fortsetzt und schließlich auch das Feld des Geistes und der Kultur umfasst. Ihm zufolge ist z.b. eine emergente Qualität auf der Ebene des Lebens (Biosphäre) die Fähigkeit von Organismen - wie rudimentär auch immer - Intentionen zu folgen und evaluative Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit hat einen konkreten Überlebenswert. Dies gelangt zur Blüte in der menschlichen Kultur (Noosphäre), in der das Werte-Trio des Wahren, Schönen, Guten als evolutionärer Attraktor wirkt. McIntoshs Buch soll bald in den USA erscheinen.
Donnerstag: „Wer sind wir?“ – von Pitirim A. Sorokin zu Integral 2.5
Die Konferenz begann am Donnerstag mit 14 Pre-Conference Workshops. Ich besuchte zunächst eine halbtägige Einführung in Holacracy mit Brian Robertson, weil ich neugierig war, welche Aspekte seiner integralen Praxis für Organisationen er diesem speziellen Publikum nahebringen würde. Außerdem schaute ich mir einen Workshop mit Marilyn Hamilton und Cherie Beck an, die die Linsen von integraler Städteplanung und Mustern wiederkehrender Generationszyklen auf die Gesundheit von Städten und Kommunen anwendeten.
Am Abend gab es dann die feierliche Eröffnung der Konferenz im Hilton-Hotel. Die Haupt-Organisatoren der Konferenz, Sean Esbjörn-Hargens und Mark Forman, sowie David Zeitler gaben eine Einführung in die Thematik. Sean eröffnete breit indem er die Frage aufwarf „Wer sind wir?“ und „Wie werden wir in tausend Jahren auf diese Konferenz zurückblicken?“ Er betonte, dass die konkrete Anwendung der Theorie in der Praxis der Litmus-Test sei und dass die ITC alle zwei Jahre als eine Art Check-In dienen könne, bei dem man sehen werde, was in der Zwischenzeit entstanden sei. So schilderte er, dass der notwendige Differenzierungsprozeß des Feldes von der Gallionsfigur Ken Wilber bereits auf der ersten Konferenz 2008 begonnen habe.
David Zeitler ging im folgenden näher auf die Frage „Wer sind wir?“ ein, indem er die Forschungsergebnisse einer Umfrage unter den Konferenzteilnehmern vor zwei Jahren präsentierte. Demnach hatten überdurchschnittlich viele Teilnehmer bereits schon mal mystische Erfahrungen gemacht und waren bewegt von den Themenkomplexen „kulturelle Fragmentierung & Zugehörigkeit“, „ökologische Verwüstung & Erneuerung“ sowie „psychologische Regression & Transformation“. Als wichtigstes Element der integralen Theorie empfanden 47% die Ebenen des Bewusstseins, als am schwierigsten in der Kommunikation mit Fachkollegen aus der eigenen Disziplin zu vermitteln wurde das Element Zustände des Bewusstseins genannt. Insgesamt wurde eine große Bandbreite unterschiedlicher Bewertungen festgestellt, die nahelegen, dass inhaltliche Spannungen im Feld fortbestehen werden. Dieser Sachverhalt wurde als Zeichen einer gesunden, diversen Gemeinschaft gedeutet.
Mark Forman betrachtete die Frage der Differenzierung von Ken Wilber genauer und machte deutlich das die Gleichung integral = Wilber nicht haltbar ist, in dem er sich auf die Suche nach den Fußspuren von Vorläufern machte und betonte, dass es gegenwärtige Alternativen zu AQAL gebe. Nichtsdestotrotz sagte Forman, dass AQAL ein raffiniertes Modell sei und verglich Wilber mit einem Mathematik-Genie, der uns zwar seine Lösung präsentiere, oftmals aber nicht den Weg, wie er dorthin gelangt sei. Er bezeichnete als das Ziel der Konferenz eine wissenschaftlich robuste Sicht des Integralen. Da die akademische Welt Traditionen vertraut und singulären Figuren oftmals misstraut, war es ihm ein Anliegen eine historische Sichtweise aufzuzeigen, wenn auch nur eine vorläufige, schematische:
Geschichte des Integralen
Integral beta: frühe integrale Denker
Integral 1.0: AQAL (1995), Ken Wilber
Integral 2.0: Zusammenwachsen & Anwendung (ITC 2008)
Integral 2.5: Differenzierung, Diversität, Forschung (ITC 2010)
Integral 3.0: eine reife integrale akademische Richtung
Ferner zeigte er fünf Weisen auf, in der das Feld sich von Wilber beginnt zu differenzieren
1) Evidenz
2) Interpretation
3) Anwendung & Betonung
4) Methode
5) Framework
Die ersten drei seien die leichtesten. Wenn man sich auf andere Daten bezieht (1), AQAL anders interpretiert (2), oder durch Anwendungserfahrung andere Aspekte betont (3) ist das wesentlich leichter, als wenn man eigenständig die integrale Methode (4) oder das Framework (5) verändern will. Als drei Herausforderungen hierbei nannte Forman den schieren Umfang des geschriebenen Materials (Sean Esbjörn-Hargens schätzt ihn auf ca. 10.000 Seiten - allein von Wilber - und 10.000 Seiten von anderen), die Schwierigkeit der Anwendung von AQAL und die Schwierigkeit der Schaffung einer Methode für Meta-Research. Eine solche Methode müsse rekonstruierbar machen, warum man welche Aspekte in seine Meta-Theorie aufnimmt, statt nur das Ergebnis des Prozesses zu präsentieren (wie Wilber).
Mark Forman bezeichnete es als große Wende unserer Sichtweise, das Integrale als historische Linie aufzufassen. Ganz in diesem Sinne präsentierte er dann auch einen weiteren – in integralen Kreise bis dato unbekannten – Vorläufer Ken Wilbers: den russisch/US-amerikanischen Soziologen Pitirim A. Sorokin (1889-1968). Dieser begann ebenfalls den Begriff „integral“ zu benutzen und bezog sich unter anderem auf die „drei Kanäle“ von Körper, Geist und Intuition, die jedem Menschen zur Verfügung stehen. Neben diesen und anderen Parallelen zu Wilber hatte Forman auf köstliche Weise herausgearbeitet, wie Sorokin scheinbar ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zu seinen Kritikern hatte. Aus zeitgenössischen Berichten seiner Kollegen ging anschaulich hervor wie Sorokin diese gnadenlos zerlegte – Wyatt Earp lässt grüßen. Das darauf folgende Gelächter im Publikum ließ auf eine gesunde Selbstironie im Feld schließen.
In Sean Esbjörn-Hargens Analyse des status quo rangiert die erste ITC 2008 rückblickend unter dem Motto „Liebesfest“, während 2010 für ihn ganz unter dem Zeichen der Differenzierung steht – nicht nur gegenüber Wilber. Er hob vor allem die Arbeiten vom Mark Edwards hervor, dessen Konzept der „Linsen“ er als wegweisend beschrieb. Die fünf Elemente von AQAL können demnach als theoretische Linsen aufgefasst werden, durch die die Welt erschlossen werden kann. Es seien aber noch andere Linsen denkbar, so z.B. die Linse „Macht“, die bei postmodernen Denkern wie Foucault eine zentrale Rolle spielt, jedoch in der integralen Theorie bisher nicht betont wurde (Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Postmoderne?). Er fasste die Entkopplung von Ken Wilber und Integraler Theorie in folgendem Diagramm zusammen:
Als Faktoren, die diese Entkopplung begünstigt haben, zählte er Wilbers Krankheit und die damit einhergehende Funkstille seinerseits (lange kein Output mehr), neu hervortretende Stimmen, neue Publikationen, die beiden ITC Konferenzen, sowie Mark Edwards Metatheorie auf.
Als neue Alternative zu Wilber-zentrischen Ansätzen auf der einen und dem „Haufen“ der Wilber-neutralen „Integral studies“ auf der anderen Seite illustrierte Sean Esbjörn-Hargens die dritte Möglichkeit einer Wilber-basierten Position anhand der Metapher eines Baumes. Der Baum wurzelt in der Arbeit integraler Pioniere, wie Gebser, Baldwin, Aurobindo, sein Stamm(-vater) ist Wilber und von dort ausgehend verästelt er sich in die verschiedenen Anwendungen, Erweiterungen und Publikationen. Über ihm schweben Wolken der Kritiker, wie etwa Visser und Edwards, deren Regen nährend wirkt. Man merkt an diesem Bild, wie sehr Esbjörn-Hargens in der Ökologie beheimatet ist. Er plädierte dafür, den integralen Ansatz als „theory of anything“ (statt „everything“) umzutitulieren – also nicht eine „Theorie von allem“, sondern eine Theorie, die auf jeglichen Aspekt der Realität angewendet werden kann.
Den Titel der Konferenz „Enactment“ bezeichnete er als fortwährendes Koan. Es bedeutet die aktive Teilhabe an der Realität, nicht nur deren Abbildung. Zentral dabei seien die Methodologien, das Wie der Inszenierung. Letztlich gehe es um die Praktiken. Und so forderte er die Anwesenden auf, in den folgenden Tagen u.a. folgende Eigenschaften zu praktizieren: Reflexivität, kritischen Dialog, Paradoxien halten, Meta-Sichten einnehmen, Perspektivwechsel, Dialektik...und Großzügigkeit untereinander – wobei letzteres im geläufigen akademischen Diskurs häufig genug ein Fremdwort sei.
Der Einführungsvortrag war der erste Paukenschlag für das, was ein großartiges Konzert werden sollte. Sean Esbjörn-Hargens hatte vorgerechnet, dass bei Berücksichtigung der Kombinationen der zahlreichen Angebote (der Taschenrechner seines iPhones streikte zwischenzeitlich) mindestens 800 Millionen verschiedene Wege denkbar waren die Konferenz zu durchlaufen. Ich war gespannt, was meiner sein würde.
Der komplette Teil 1 des Berichts ist im Online Journal "integral informiert", Ausgabe 25 zu lesen. Erscheint ab September 2010.
Bild: Allan Combs, Terry Patten, Steve McIntosh, Craig Hamilton
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