Das Phänomen WikiLeaks aus Integraler Sicht
-von Dennis Wittrock
aus: Magazin "Integrale Perspektiven", Ausgabe 18, März 2011
Mit spektakulären Veröffentlichungen einer rauen Menge von als „Top Secret“ eingestuften Daten, im jüngsten Fall von rund 250.000 diplomatischen Depeschen der amerikanischen Regierung, katapultierte sich die Webseite „WikiLeaks“ und ihr Gründer und Galionsfigur Julian Assange, über Nacht zu einem Global Player der Weltpolitik. WikiLeaks macht eine Menge Wellen und das Imperium schlägt zurück. Eine Bestandsaufnahme der Ereignisse, gepaart mit einer integralen Analyse eines Zeitgeist-Phänomens der Internet-Ära.
Angela Merkel ist „wie Teflon“ und Außenminister Westerwelle wird als „eitel und inkompetent“ charakterisiert. Was man da aus offiziellen Depeschen des US-Botschafters in Berlin entnehmen kann, scheint die Aufregung um WikiLeaks auf den ersten Blick nicht zu rechtfertigen. „Das ist nicht gerade neu“ oder „Das hätte ich auch Ihnen auch sagen können“ sind die wohl meistzitierten Reaktionen. Doch ein Blick auf die Hintergründe offenbart rasch die Brisanz und die Dimension der Enthüllungen der umstrittenen Internet-Plattform. Stellen Sie sich vor, Sie sollen eine öffentliche Rede halten, die weltweit live im Fernsehen übertragen wird. Als Sie ans Mikrofon treten wollen, kommt jemand von hinten und zieht Ihnen Ihr komplettes Beinkleid blank. So ungefähr muss sich Hillary Clinton gefühlt haben, als offenbar wurde, dass WikiLeaks eine viertel Million klassifizierter Dokumente für jedermann einsehbar im Internet veröffentlicht hat. Spätestens da waren die Augen der Weltöffentlichkeit auf WikiLeaks gerichtet. (Die Namensähnlichkeit mit „Wikipedia“ geht übrigens stark zum Leidwesen der beliebten Internet-Enzyklopädie, die es schwer hat, sich in der öffentlichen Sphäre von Assanges Aktivitäten abzugrenzen.) Es folgt der Versuch einer Rekapitulation der wichtigsten Stationen, die bis zu diesem spektakulären Coup geführt haben.
Eine Chronik der rasanten Geschichte von WikiLeaks
Schon in seiner Jugend war der gebürtige Australier Julian Assange ein begabter Hacker, dem bereits zu Beginn der Internet-Ära das Kunststück gelang, in den Zentralcomputer der NASA und des US Militärs einzudringen. Früh erkannte er das Potential des Internets für sozialen Aktivismus und gründete 2006 seine Plattform WikiLeaks. Hier sollten „geleakte“, also durchgesickerte Geheiminformationen, die von öffentlichem Interesse und gesellschaftlicher Relevanz waren, von Informanten anonym hinterlegt und später veröffentlicht werden. Als sein Projekt immer mehr Know-How und Ressourcen erforderte, arbeitete er mit dem deutschen „Chaos Computer Club“, darunter Daniel Domscheit-Berg zusammen. Die ersten „Leaks“ waren unter anderem Informationen, die einen ausschlaggebenden Einfluss auf den Ausgang eines Wahlkampfes in einem afrikanischen Land hatten, sowie Enthüllungen, die WikiLeaks von Aussteigern innerhalb von Scientology zugespielt wurden.
In 2009 sorgte die Veröffentlichung interner Dokumente der isländischen Kaupthing Bank, die später tief in der Finanzkrise verwickelt war, für Wirbel. Fünf Minuten vor Sendetermin landete eine Verfügung auf dem Tisch des Nachrichten-Moderators, dass der geplante Bericht darüber im isländischen Fernsehen nicht gesendet werden sollte. Statt dessen zeigten sie kurzerhand einen Screenshot von WikiLeaks mit der Aufforderung, dass sich die Zuschauer selber auf der Webseite informieren sollten. Dies führte zur nationalen Popularität der Webseite in Island. Assange und sein Mitstreiter entwarfen spontan einen Gesetzesentwurf, der dafür sorgen sollte, dass Islands Mediengesetzgebung das Land in ein Äquivalent dessen verwandeln sollte, was die Cayman Islands für Geldwäscher sind: eine sichere Insel für investigativen Journalismus. Das isländische Parlament nickte den Vorschlag ab.
Der erste globale Paukenschlag kam im April 2010, als WikiLeaks das Video „Collateral Murder“ veröffentlichte. Auf dem Clip ist zu sehen, mit welcher Menschenverachtung US-Soldaten im Kampfeinsatz harmlose Passanten aus sicherer Entfernung aus einem Kampfhubschrauber niedermetzeln. Die Presseagentur Reuters, deren zwei Mitarbeiter bei dieser Aktion ums Leben kamen, hatte sich zuvor vergeblich um die Herausgabe des Videomaterials bei den amerikanischen Militärs bemüht. Die Bilder gingen um die Welt. Im Juli 2010 veröffentlichte WikiLeaks die Kriegstagebücher aus Afghanistan, eine Sammlung interner militärischer Aufzeichnungen, die die Grausamkeit und Absurdität des Kriegsgeschehens in akribischem Detail dokumentieren. Darauf folgten die Kriegstagebücher („War Logs“) aus dem Irak, mit 391.832 Berichten die bis dato größte Menge veröffentlichter Geheimdokumente überhaupt. Neu war zu diesem Zeitpunkt die strategische Kollaboration mit renommierten Medienpartnern, dem britischen „Guardian“, der „New York Times“ und „Der Spiegel“. Die schiere Masse der sensiblen Informationen überstieg die editorialen Kapazitäten des WikiLeaks-Teams. Gleichzeitig erreichte Assange mit seiner spektakulären Publikation über die Kanäle etablierter Presseorgane (international konkurrierende Redaktionen kollaborieren erstmals zur Aufarbeitung des Materials) eine enorme Aufmerksamkeit für das Anliegen seiner Organisation- was letztlich den finanziellen Support der Non-Profit-Organisation durch Spenden sichern sollte. Im Laufe des Jahres 2010 veröffentlichte seine Internetplattform mehr geheime Dokumente als die gesammelte Weltpresse zusammen. (Assange kommentiert dies in einem Interview als Armutszeugnis für die Presse, die ihrem investigativen Auftrag nicht genügend nachkomme.) Die „Cablegate-Affäre“ mit den diplomatischen Depeschen setzte der Veröffentlichungsoffensive die Krone auf.
Das Imperium schlägt zurück
Zwischenzeitlich wurde der US-Soldat Bradley Manning in Untersuchungshaft genommen, der WikiLeaks angeblich die Geheimdokumente übermittelt haben soll. In einem Chat hat er sich offenbar dem Falschen anvertraut und muss nun mit dem Schlimmsten rechnen, bis ihm vor einem Militärgericht der Prozess wegen Hochverrats gemacht wird. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass er derzeit (Jan 2011) unter menschenverachtenden Bedingungen in Isolationshaft festgehalten wird. Die US-Regierung übt massiven Druck aus, um die Aktivitäten von WikiLeaks zu unterbinden, insbesondere, um die Geldströme zu kappen. Amazon weigert sich, WikiLeaks weiter auf seinen Servern zu hosten, PayPal friert Spendenkonten zur Unterstützung von WikiLeaks ein, Mastercard, Visa, die Schweizer Postfinance, sowie die Bank of America (über die Assange weitere Enthüllungen in 2011 angekündigt hat) stellen ihre Dienste in Bezug auf WikiLeaks ein und begründen dies weitgehend mit Verstoß gegen Ihre Geschäftsbedingungen. Die chaotisch organisierte Hacker-Gruppierung „Anonymus“ bläst mit DDOS (Distributed Denial of Service) –Attacken zum Gegenangriff und legt in der „Operation Payback“ durch massenhafte Anfragen vorübergehend diverse Webseiten lahm, darunter auch Mastercard.
Die Obama-Administration sucht indes fieberhaft nach einer Gesetzesgrundlage, aufgrund dessen sie Assanges Aktivitäten kriminalisieren kann. WikiLeaks versteht sich als journalistische Organisation, deren investigative und publizistische Aktivitäten unter den Schutz des Verfassungszusatzes der Pressefreiheit fallen – was seit jeher eine zentrale Säule der amerikanischen Demokratie war und ist. Da sie selber keine sensiblen Daten entwendet, sondern lediglich von anonymen Informanten entgegennimmt und publiziert, bzw. an die Presse übermittelt, tut sie etwas, das auch die „New York Times“ tut, oder zumindest tun sollte. Letztere gerät selber unter öffentlichen Druck durch die Kooperation mit WikiLeaks, beruft sich aber ebenfalls auf das First Amendment der amerikanischen Verfassung. Amerika ist in der Zwickmühle. Nationale Sicherheit oder Pressefreiheit? Die konservative Propaganda-Maschinerie läuft heiß. Sarah Palin (deren gehackter Email-Account bereits 2008 auf WikiLeaks zu lesen war) ordnet WikiLeaks derselben Kategorie zu wie die Taliban und fordert Assanges Verfolgung. Der prominente US Politiker Mike Huckabee fordert öffentlich die Hinrichtung Assanges. Fox-News Kommentator Bob Beckel ruft öffentlich dazu auf „den Hurensohn auf illegale Weise“ zu erschießen.
Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange
Den US-Behörden spielt ein internationaler Haftbefehl in die Karten, den eine schwedische Richterin gegen Assange ausstellt. Assange soll in Schweden zwei Frauen gegen ihren Willen zu ungeschütztem Sex ohne Kondom, ein Straftatbestand nach schwedischem Recht, gedrängt haben. Die Frauen wandten sich vor Ort an eine lokale Polizeistation, gaben aber an, dass sie den Geschlechtsverkehr eingewilligt hatten und sich aktuell auch nicht von Assange bedroht fühlten. Ein erster Haftbefehl wurde von der zuständigen Staatsanwältin wegen Geringfügigkeit fallengelassen. In der Darstellung von „Der Spiegel“ hatte Assange, dem neben seinem exzentrischen Charakter eine gewisse Promiskuität nachgesagt wird, eine Dreiecks-Affäre mit den beiden Frauen, welche, nachdem diese aufgeflogen war, sich dann angeblich aus Rache gegen Assange solidarisiert haben und an die Polizei getreten sind. Assange spricht von einer „Schmierkampagne“ gegen seine Person.
Einige Zeit später wird ein zweiter internationaler Haftbefehl ausgestellt, dieses Mal von einer anderen Richterin in einem anderen Ort. Assange, der sich in England befindet, meldet sich auf der Polizeistation, um zu mit den schwedischen Behörden zu kooperieren, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen und die konkreten Inhalte der Vorwürfe gegen ihn zu erfahren. Diese werden ihm nicht mitgeteilt. Stattdessen wird er unvorbereitet in Gewahrsein genommen, mit der Begründung, dass akute Fluchtgefahr bestehe. Er befürchtet eine Auslieferung nach Schweden, von wo aus er weiter in die USA ausgeliefert werden kann, wo er wiederum nach eigenen Angaben kein faires Verfahren gegen seine Person erwartet. Der Prozess gegen Assange trifft auf breites Medieninteresse. Prominente Unterstützer zahlen die nötige Kaution und Assange wird gestattet, unter Hausarrest mit elektronischer Fußfessel und täglicher Meldepflicht, auf dem Anwesen eines Unterstützers auf den weiteren Verlauf des Auslieferungsverfahrens zu warten.
Die Hydra der „Mirror“-Seiten und Assanges „Lebensversicherung“
Der Natur des Internets gemäß, gingen die Versuche der US-Administration, den Flaschengeist der digitalen Information wieder zurück in die Flasche zu zwingen, komplett nach hinten los. Hunderte Sympathisanten spiegelten die Inhalte der gesperrten www.WikiLeaks.org Domain auf sogenannte „Mirror“-Seiten. Wie die mythologische Hydra, der an der Stelle eines abgeschlagenen Kopfes zwei neue wachsen, schießen ständig neue Kopien von WikiLeaks und zahlreicher neuer, von ihr inspirierter Seiten, z.B. „OpenLeaks“ (ein Projekt von Domscheit-Berg) aus dem Boden – was die Zensurbemühungen der US-Behörden als geradezu naiv aussehen lässt.
Außerdem wird derzeit im Internet eine „Lebensversicherung“ in Form einer hochgradig verschlüsselten „Informations-Atombombe“ bzw. „Giftpille“ mit hochgradig sensiblen Dateien in mehren Gigabyte Umfang auf mehreren Servern hinterlegt. Sollte Assange Gewalt zugefügt werden – so die Drohung – werde der Schlüssel veröffentlicht und die Information auf einen Schlag zugänglich werden. Die Story liest sich wie ein Agententhriller aus der Feder eines Hollywood-Regisseurs. Wie stellt sich aber das Ganze nun durch eine integrale Brille betrachtet dar?
Lesen Sie den kompletten Artikel im Magazin "Integrale Perspektiven", Ausgabe 18, März 2011
Bezug unter www.integralesforum.org
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