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Die Verwandschaft ästhetischer und mystischer Erfahrung

Ich schreibe momentan eine Hausarbeit zu diesem Thema und bin bei meiner Recherche auf einige interessante Passagen bei verschiedenen Künstlern gestoßen. Hier einige Auszüge daraus:

Hugo von Hoffmansthal, "Brief des Lord Chandos":
"Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Albernheit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen. Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, dem die unbegreifliche Auserwählung zuteil wird, mit jener sanft und jäh ansteigenden Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden. [...]
Ich habe Sie, mein verehrter Freund, mit dieser ausgebreiteten Schilderung eines unerklärlichen Zustandes, der gewöhnlich in mir verschlossen bleibt, über Gebühr belästigt"

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Marcel Proust, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit":
"In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder war diese Substanz nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. [...]
Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle anderen verblassen."

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Reiner Maria Rilke, "Erlebnis"

"Seiner Gewohnheit nach mit einem Buch auf und ab gehend, war er darauf gekommen, sich in die etwa schulterhohe Gabelung eines strauchartigen Baumes zu lehnen, und sofort fühlte er sich angenehm unterstützt und so reichlich eingeruht, dass er so, ohne zu lesen, völlig eingelassen in die Natur, in einem beinah unbewußtem Anschaun verweilte.[...]
Gleichwohl, bestrebt, sich gerade im Leisesten immer Rechenschaft zu geben, fragte er sich dringend, was ihm da geschehe, und fand fast gleich einen Ausdruck, der ihn befriedigte, vor sich hinsagend: er sei auf die andere Seite der Natur geraten. [...]
Überall und gleichmäßiger erfüllt mit dem in seltsam innigen Abständen wiederkehrenden Andrang, wurde ihm sein Körper unbeschreiblich rührend und nur noch dazu brauchbar, rein und vorsichtig in ihm dazustehen, genau wie ein Revenant, der, schon anderswo wohnend, in dieses zärtlich Fortgelegtgewesene wehmütig eintritt, um noch einmal, wenn auch zerstreut, zu der einst so unentbehrlich genommenen Welt zu gehören. Langsam um sich sehend, ohne sich sonst in der Haltung zu verschieben, erkannte er alles, erinnerte es, lächelt es gleichsam mit entfernter Zuneigung an, ließ es gewähren, wie ein viel Früheres, das einmal in abgetanen Umständen an ihm beteiligt war. [...]
Wo sonst sein Aufenthalt war, hätte er nicht zu sagen vermocht, aber daß er zu diesem allen hier nur zurückkehrte, in diesem Körper stand, wie in der Tiefe eines verlassenen Fensters, hinübersehend:[...]
Überhaupt konnte er merken, wie sich alle Gegenstände ihm entfernter und zugleich irgendwie wahrer gaben, es mochte dies an seinem Blick liegen, der nicht mehr vorwärts gerichtet war und sich dort, im Offenen, verdünnte;[...]"

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In der Terminologie Ken Wilbers gesprochen handelt es sich hier mit ziemlicher Sicherheit um einen Zustand naturmystischer Erfahrung („völlig eingelassen in die Natur“), der bereits in den Zustand eines „Zeugen“-Bewusstseins übergeht. „Die andere Seite der Natur“ ist demnach das spiegelgleiche Gewahrsein des Zeugen, das „schon anderswo wohnend“, die Identifikation mit und die Verwicklung in die „einst so unentbehrlich genommene Welt“ transzendiert hat. „Wo sonst sein Aufenthalt war“ ist deswegen unsagbar, weil – den Mystikern zufolge – dieses ‚Eine Bewusstsein’ überall und nirgends zugleich ist, und auch die bloße „Rückkehr“, bzw. die Erinnerung an die ursprüngliche Identität als reines Bewusstsein, wäre vor diesem Hintergrund sinnvoll interpretierbar. Das Schauen aus dem Körper, wie aus der Tiefe eines „verlassenen Fensters“ ist vielleicht eine Anspielung auf den Wegfall der Fiktion eines „Ichs“, das das Schauen besorgt – was nach Ansicht der Mystiker ebenso überflüssig ist, wie die Fiktion eines „Regners“, der das Regnen besorgt, oder die Fiktion eines kleinen Männchens, das im Radio-Gerät sitzt und Ansagen macht. Nein – im Radio-Gerät sitzt kein kleines Männchen, im Regen ist kein „Regner“ verborgen und hinter den Fenstern der Seele, den Augen, ist kein „Sehender“ zu finden. Dies beeinflusst die Qualität seines Blickes selber, der „nicht mehr vorwärts gerichtet“ war , sondern sich „im Offenen verdünnte“. Die fehlende Gerichtetheit des Blickes ist interpretierbar als Merkmal einer fehlenden Zweckgerichtetheit, die, aus dem Ego entspringend, gewöhnlich die reine Wahrnehmung durch Beurteilung und Kommentierung verengt und trübt. Dementsprechend des-identifiziert mit alltäglichen Zwecken wäre es nicht verwunderlich, dass ihm die Dinge „entfernter und zugleich irgendwie wahrer“ vorkommen.

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Letzlich ist im Auge des GEISTES der gesamte Kòsmos ein atemberaubendes Kunstwerk in dessen strahlender Schönheit man versinken und am liebsten nie wieder auftauchen möchte. (frei nach Ken Wilber)

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