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Jean Gebser über das integrale Bewusstsein (1949)


"Das neue Bewußtsein, das, sich selber vorausnehmend, in den schöpferischen Gestaltungen der Künstler, Denker und Wissenschaftler zuerst Kontur gewonnen hat, wird nicht vollgültig, solange es nicht im Alltag gelebt wird. In welcher Form kann das geschehen? Es wird, naturnotwendigerweise, von sich aus geschehen. Aber die Wirrnis der heutigen Situation erfordert eine gewisse Bereitschaft, Aufgeschlossenheit und Mitarbeit von jedem einzelnen.
Es wird von sich aus geschehen, da sich die Struktur der neuen Realisationsweise bereits in den verschiedensten Bereichen unseres Lebens mit einer nicht mehr wegzuleugnenden Intensität zu manifestieren begonnen hat. Ein jeder aber kann durch seine Haltung und Handlungsweise dazu beitragen, daß sich der Konsolidierungsprozeß ohne den Umweg über eine mögliche Katastrophe vollzieht. […]

Gleichermaßen evident ist es, daß zur gegebenen Zeit die neue Struktur auch für die Allgemeinheit bewußtseinskräftig werden muß. Die Grundlagen unserer Denkweisen sind bereits durch Tatsachen verändert, umstrukturiert. Dieser Umstrukturierung kann sich auf die Dauer niemand entziehen. Unmerklich und selbstverständlich wird die neue Bewußtseinsstruktur für jeden Gültigkeit erhalten. Und jene, die sie nicht annehmen, die in der alten verharren wollen, werden durch die neue Kraft im Verlauf der nächsten Generationen weitgehend ausgeschaltet werden. […]

Um so deutlicher wird die Notwendigkeit, die falsche Form des Einbruches der Zeit, wie sie in Motorisierung, Jagd nach wertlosen »Gütern« und ähnlichem zum Ausdruck kommt, zu überwinden. Diese Umwelt, Fabrik und Büro, haben wir selber geschaffen, diese Formlosigkeit der Leere haben wir uns von der leeren Motorik aufzwingen lassen. Sie wird sich in dem Maße ändern, als wir fähig sind, das zu realisieren, was uns aufgetragen ist. Dies vorzubereiten, bleibt einem jeden Muße und Muß. Zwischen Lohnarbeit und Schlafzeit liegen viele täg-liche Stunden. Wer sie zu nützen weiß, wird sie nützen. Aber nicht indem er sich »Bildung« anlernt, sich »Wissen« anliest, sondern indem er diese Stunden nicht nur zweckmäßig, sondern sinnvoll, Tag für Tag, zu leben versucht. Was heute »Freizeit« genannt wird, sollte nicht freizeitlich vergeudet werden, sondern uns »zeitfrei« machen. […]

Die Wirrnis im Leben des einzelnen unserer Tage, seine Unerfülltheit in der Arbeit, seine Isoliertheit in der Masse, seine Ohnmacht gegenüber dem Leerlauf der anonymen Mächte, seien diese Maschinen oder Bürokratie, seine Unsicherheit und Unfreiheit sind nur Spiegel der allgemeinen Situation. Die Unhaltbarkeit dieser Situation ist genau so offensichtlich wie die Anzeichen, daß sie überwunden werden wird. Was im Großen für das Allgemeine gilt, gilt aber auch im Kleinen für den einzelnen. Die Neustrukturierung der gesamten Wirklichkeit hat bereits eingesetzt. Es wird von uns abhängen, ob der endgültige Durchbruch zu ihr, ob ihre Konsolidierung sich mit unserer Hilfe oder gegen unsere Uneinsichtigkeit vollzieht.

Jede Wirrnis, die ein jeder von uns in seinem täglichen Leben und Handeln zu klären versucht und vermag, jedes Auffangen der Angst, jedes Gran Sicherheit, das er sich erarbeitet, jede Distanzierung – selbst die geringste –, die er zu sich selber gewinnt, jedes Vorurteil und jedes Ressentiment, die abzulegen er fähig ist, sind notwendige Leistungen, welche die neue Wirklichkeit festigen und ihm und der Allgemeinheit Sinnfülle eintragen werden. Ein jeder ist frei, es zu leisten."

Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Band 2, S. 672f, 675f

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